Die Recherche der Gratismedien

FarmvilleReisserisch war der Titel, kurz die Story auf 20 Minuten Online: Ein Mutter (alter nicht erwähnt), schüttelt ihren Sohn (alter nicht erwähnt) zu Tode, weil dieser sie mit seinem Geschrei beim Spielen störte. Tatort: Irgendwo in Florida, USA.

"Mutter schüttelt Sohn wegen Spiel zu Tode"

 


Ich weiss nicht, was mich mehr erschüttert. Die Tatsache, dass eine Mutter ihr Kind zu Tode schüttelt oder die Tatsache, dass diese Tragödie aus Sicht der Medien deswegen erwähnenswert scheint, weil die Täterin während dem Spielen auf Facebook gestört wurde. Spektakulär. Beim Spielen! Nicht beim Kochen, nicht beim Bügeln, auch nicht beim "1 gegen 100" schauen. Nein, in der Zeit der Musse, beim virtuellen Rübenanbau in "Farmville" geschah es!

In Deutschland, heisst es, erleiden jährlich zwischen 300 und 500 Kleinkinder mehr oder weniger schwere Schädigungen weil sie ein Schütteltrauma erleiden. Das würde mehr als einen Artikel pro Tag in den Medien bedeuten, zumal Deutschland - anders als die USA - unser Nachbar ist! In der Schweiz darf man von einer - relativ zur Bevölkerung - ähnlichen Zahl solcher Taten ausgehen.

Aber nichts lesen wir. Es ist einfach nicht interessant genug. In Zeiten wo wir sämtliche Informationen, sämtliche Katastrophen, Ausschreitungen, Terroranschläge und natürlich sämtliche Skandälchen der Hirschmänner und Gaga-Ladies unserer Zeit gratis, dafür in Echtzeit auf dem Tablet serviert erhalten, komprimiert in maximal 3 Abschnitten à 2 Sätzen, einer davon mit Nebensatz, muss die Sensation enthalten sein! Wer nicht online ist, erhält ebendiese Sensationen zusammengefasst auf 18 Seiten (Werbung nicht mitgezählt) im Tabloidformat an jedem grösseren Provinzbahnhof. Am Abend, wenn die Sensationen dann noch einen pinkingen Anstrich erhalten, wird dem "Leser" mit den "Top 5" sogar noch aufgezeigt, welches die wichtigsten News sind. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Schon gar nicht mit lesen.

Ja, ich habe "Leser" in Anführungszeichen geschrieben. Vielleicht hätte ich auch "Betrachter" schreiben können. Denn ausser sensationellen Titeln gibt es in der Regel nicht allzu viel zu lesen (ist ja auch viel zu anstrengend), dafür aber umso schönere bunte Bilder. So auch von der Täterin aus Florida. Früher, als für Newsartikel noch bezahlt wurde, hätten höchstens das Konterfei neugewählter Staatspräsidenten oder Nobelpreisträger mehr als 50 % der Gesamtfläche des Artikels ausgemacht.

Im August dieses Jahres kam eine Studie des Zürcher Soziologen Kurt Imhof zum Befund, dass Onlineportale und Gratisblätter die Qualität der Schweizer Medien zerstören. Unsere Gratis-Kultur geht zu Lasten aufwendig recherchierter Hintergrundberichte - die eben kosten. Ein Aufschrei ging durch die Medien. Nicht weil endlich einmal jemand auszusprechen wagte, was eigentlich sowieso jeder schon ahnte, sondern vielmehr, weil sich jemand öffentlich anmasste, Produkte der grossen Medienhäuser Tamedia (20 Minuten, Tages Anzeiger, Berner Zeitung) oder Ringier (Blick) zu kritisieren.

Der Aufschrei ist längst verhallt. Die Leserzahlen recherchierter und somit kostenpflichtiger Medien erodieren weiter. Schuld daran sind wir Konsumenten selbst. Solange wir uns im morgendlichen Pendelverkehr sinngemäss lieber gratis darüber aufklären lassen, dass "Farmville" ein gestörtes Verhalten auslösen kann, als für einen analysierenden Artikel zu bezahlen, der erklärt warum man niemals ein Baby schütteln darf, oder der nach der Ursache forscht, warum diese Frau ihr Kind tötete, werden wir uns auch in Zukunft über solche Artikel nicht wundern müssen.

 

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